Deep Dive (1) Produktivitätsparadoxon der IT
In unserer neuen Serie Deep Dive beleuchten wir intensiv Themen & Trends rund um die IT-Branche. Dafür recherchieren wir aktuelle Themen aus der Wissenschaft & Arbeitswelt, schauen aber auch mal zurück und finden dabei spannende, kuriose Stories aus der Vergangenheit.
Im ersten Deep Dive dreht sich alles um Produktivität. Dabei wird es dieses Mal nicht um die Steigerung der persönlichen Produktivität anhand von To-Do Listen und nützlichen Tools gehen; heute handelt es sich um die Produktivität einer ganzen Volkswirtschaft und um ein Kuriosum, dass sich seit Beginn der Digitalisierung beobachten lässt:
Das Produktivitätsparadoxon der Informationstechnologien – kurz IT.
Sicherlich fragen sich die ein oder anderen nun: „Das gibt es doch gar nicht – schließlich macht IT alles effizienter?“ Genau das stellt den Kern des Phänomens dar, weshalb wir in zwei Teilen die Gründe für das Auftreten & dessen Auswirkungen beleuchten.
Was hat es also mit dem Paradoxon auf sich? Los geht’s!
We see the computer age everywhere except in the productivity statistics!
Es gibt wenige alltägliche Situationen, in denen das Thema volkswirtschaftliche Produktivität Einsatz findet. Vielleicht kam es schon mal in einer VWL Vorlesung auf oder man hat zufällig ein Zitat des Sachverständigenrates in den einschlägigen Wirtschaftsmagazinen gelesen – abseits von diesen Situationen gibt es in der „normalen Welt“ wenige Kontaktpunkte mit dem berüchtigten Paradoxon. Der Begriff prägt jedoch seit geraumer Zeit die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften, Volkswirtschaftslehre sowie die allgemeine Theorie der Arbeit. Genauer gesagt: seit den 1980er-Jahren!
In 1987 wurde das Paradoxon erstmals in einer amerikanischen Studie beachtet und thematisiert. Der Autor stellte eine Verlangsamung der Wachstumsrate der Produktivität gegenüber der Zeit seit 1950 fest – und zwar trotz des immer weiterwachsenden Einsatzes der neuen, innovativen Informationstechnologien. Aufbauend darauf festigte sich die wissenschaftliche Auffassung, dass der Computereinsatz und andere neuen Kommunikationstechnologien keinen ausschlaggebenden Beitrag zur Produktivität leisten.
Dies mündete in dem Zitat des berühmten Wissenschaftlers Robert Solow, der Mitbegründer des bekannten, bis heute benutzten Solow-Swan-Wachstumsmodell ist: “[W]e see the computer age everywhere except in the productivity statistics“
Bis heute rätselt die Wissenschaft über dieses Paradoxon und die damit einhergehenden schwachen Entwicklungsraten der Produktivität. Die Meinungen zur Ursachenfindung gehen auseinander und es bilden sich Lager: Optimistische Stimmen vermuten Messfehler und die Notwendigkeit neuer Modelle, da die altbewährten unsere neue Lebensrealität unzureichend darstellen. Pessimistische Stimmen vermuten, dass die digitale Revolution schlichtweg nicht mit dem Aufschwung der Industrialisierung zu vergleichen ist. Ob alles nur eine Frage der Zeit ist? Auf diese Antwort weiß die Wissenschaft keine Antwort – somit bleibt es spannend.
Feststeht, dass das Paradoxon in der nationalen Bewertung stets als mögliche Ursache für die schwachen Entwicklungen und ausbleibenden Aufschwung der Produktivität genannt wird. So stellte es auch der deutsche Sachverständigenrat im Gutachten für 2020/21 fest, der für die Beurteilung von wirtschaftlichen Entwicklungen und daraus folgende Prognosen zuständig ist.
Eine Welt im Wandel
Unsere Welt hat sich in den letzten 50 Jahren massiv verändert. Ähnlich der Erfindung der Dampfmaschine im 17. Jahrhundert, der industriellen Revolution ab dem 18. Jahrhundert und der darauffolgenden Elektrifizierung, veränderten auch die Informationstechnologien unseren Alltag. Mit beginnender Etablierung des Internets in den 1990er-Jahren, war der Grundstein für unsere heutige Welt gelegt. Kommunikation, Banking, Einkäufe & Reiseplanung: Unser Alltag ist durch die digitale Infrastruktur um einiges einfacher und zeitsparender. Oder?
Auch im Unternehmenskontext hat die digitale Revolution grundlegende Prozesse verändert: Der Computer am Arbeitsplatz wurde eingeführt, Investitionen in vielversprechende Systeme getätigt und weitere Anpassungen vorgenommen, um auf die sich stetig verändernden Kundenbedürfnisse zu reagieren. Weg von manuellen Prozessen und Aktenordnern; hin zu effizienten und digitalen Abläufen.
„So schön neu“
Die letzten 50 Jahre haben alles neu gemacht, aber glänzt auch alles nach wie vor? In der gesellschaftlichen Wahrnehmung erleben wir durch die neuen Technologien einen Aufschwung:
- Neugründungen durch FinTechs oder InsurTechs, die mit ihren disruptiven Produkten und Dienstleistungen ganze Branchen umkrempeln.
- Eine globale Vernetzung, die zur Demokratisierung von Informationen, Bereitstellung von Wissen und Kooperation führen kann – nie war es so einfach wie jetzt miteinander zu kommunizieren.
- Die alltäglichen Dinge, wie Videoanrufe, die in der Pandemie eine ganze Volkswirtschaft vernetzt und arbeitsfähig hielten.
Wie können wissenschaftliche Beobachtungen dazu konträr sein?
Die Definition des Begriffs Paradoxon beinhaltet genau diesen Kontrast der gesellschaftlichen & wissenschaftlichen Wahrnehmung:
Pa·ra·do·xon
„scheinbar unsinnige, falsche Behauptung, Aussage, die aber bei genauerer Analyse auf eine höhere Wahrheit hinweist“
Die genaue Analyse verschiedener Wissenschaftler lässt sich verkürzt wie folgt zusammenfassen:
Mit dem Einsatz innovativer, als effizient bezeichnete Informationstechnologien in der Arbeitswelt soll die allgemeine Arbeitsproduktivität steigen, ähnlich der Industrialisierung im 18. bis 19. Jahrhundert. Das tut sie jedoch objektiv nicht, vielmehr verlangsamen sich nationale Wachstumsraten der Produktivität.
Dabei steht besonders die Arbeitsproduktivität im Fokus, da sie ein Maß für die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft ist. Sie zeigt das Verhältnis zwischen Arbeitseinsatz und Ergebnis an. Bleibt bei diesem Maß trotz vielversprechenden Technologien über einen längeren Zeitraum die Steigerung aus, ruft dies eine tiefergehende Untersuchung hervor. Dies übernimmt bspw. in Deutschland der Sachverständigenrat. So bestätigt sich die Beobachtung fallender Arbeitsproduktivität über mehrere Branchen hinweg. Besonders erkennbar ist dies in den Dienstleistungssektoren der Industrienationen, der gleichzeitig auch die meiste Zahl an Beschäftigten aufweist. Der Einfluss auf die gesamt nationale Arbeitsproduktivität ist also groß und schwächt die Quote.
Auswirkungen auf Wirtschaft & Arbeitswelt
Während sich die Wissenschaft mit möglichen Erklärungen und neuen Messmethoden beschäftigt, bleibt die Frage, was das für uns bedeutet – und ob es überhaupt etwas verändert.
Was der demographische Wandel und Fachkräftemangel damit zu tun haben, erfahrt Ihr im zweiten Teil!
Quellen:
Brynjolfsson, Erik, & Hitt, Lorin M. (1998). Beyond the Productivity Paradox: Computers are the Catalyst for Bigger Changes, in: Communications of the ACM, Jg. 41, Bd. 8, S. 49–55
Dew-Becker, Ian & Gordon, Robert J. (2005): Where Did the Productivity Growth Go? Inflation Dynamics and the Distribution of Income , in: National Bureau of Economic Research, Working Paper 11842. http://www.nber.org/papers/w11842
Gordon, Robert J. (2018): Why Has Economic Growth Slowed When Innovation Appears to be Accelerating? in: National Bureau of Economic Research, Working Paper 24554. https://www.nber.org/system/files/working_papers/w24554/ w24554.pdf
Natrop, Johannes & Neifer, Thomas (2018): Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität in Deutschland: Hintergründe, Herausforderungen und Implikationen, in: Gadatsch, Andreas, Ihne, Hartmut, Monhemius, Jürgen & Schreiber, Dirk (Hrsg.): Nachhaltiges Wirtschaften im digitalen Zeitalter, Wiesbaden: Springer, S. 381–417.
Sachverständigenrat/SVR (2019): Den Strukturwandel meistern: Jahresgutachten 19/20 https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/jahresgutachten-2019.html